
24.06.2025
Neue Chancen für Kunststoffverarbeiter?
Die Kunststoffbranche befindet sich im Wandel – insbesondere die traditionell starke Automobilindustrie und ihre Zulieferer stehen vor tiefgreifenden Veränderungen. Bei der Suche nach neuen Wachstumsfeldern rückt der Healthcare-Sektor zunehmend in den Fokus von Kunststoffverarbeitern. Die Masterflex Group ist auf die Herstellung von Schläuchen und Verbindungssystemen spezialisiert, die in allen industriellen Anwendungen zum Einsatz kommen – von der Raumfahrt über den Werkzeugbau bis zur Medizintechnik. Mit Geschäftsführer Martin Oye haben wir darüber gesprochen, worauf es beim Einstieg in den Healthcare-Markt ankommt und welche Fallstricke zu beachten sind – und warum nachhaltige Materialien auch hier zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Erkennen Sie derzeit einen Trend, dass Firmen, die bislang nicht im medizinisch-pharmazeutischen Bereich aktiv waren, sich zunehmend für diesen Sektor interessieren und engagieren?
Martin Oye: Ja, dieser Trend ist deutlich zu beobachten. Immer mehr Unternehmen aus anderen Branchen erkennen das Wachstumspotenzial des medizinischen und pharmazeutischen Marktes und investieren gezielt in diesen Bereich. Angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach Healthcare-Lösungen wird diese Entwicklung voraussichtlich auch in Zukunft weiter an Dynamik gewinnen.
Welche Faktoren sind entscheidend, um als Verarbeiter in diesem Markt Fuß zu fassen und sich zu behaupten?
Martin Oye: Ein Einstieg in den medizinisch-pharmazeutischen Bereich will gut vorbereitet sein. Zunächst braucht es eine gründliche Planung sowie den gezielten Aufbau von Fachwissen. Elementar wichtig ist hier, die strengen regulatorischen Vorgaben zu verstehen und einzuhalten. Um sich im Markt zu etablieren und die Herausforderungen der Branche zu meistern, ist ein langfristiger Ansatz wichtig sowie die Bildung strategischer Partnerschaften mit Kunden und Herstellern bzw. Rohstofflieferanten.
Eine zentrale Rolle spielen auch Innovation in der Produktentwicklung und ein exzellenter Kundenservice. Zudem müssen Unternehmen eine starke Risikomanagementstrategie haben und in der Lage sein, sich schnell an Marktveränderungen und regulatorische Anforderungen anzupassen. Der Erfolg hängt letztlich von der Fähigkeit ab, Wert für den Kunden zu schaffen, während gleichzeitig höchste Qualitätsstandards eingehalten werden.
Gibt es beim Einstieg in die Medizintechnik spezielle „Fallstricke“ oder typische Fehler, die man unbedingt vermeiden sollte?
Martin Oye: Ja, die gibt es tatsächlich. Oft werden die strengen regulatorischen Anforderungen unterschätzt und es fehlen beispielsweise Zertifizierungen oder die etablierten Qualitätsmanagementsysteme reichen nicht aus. Auch unzureichende Marktforschung oder mangelndes Verständnis für die tatsächlichen Bedürfnisse der Endnutzer können problematisch werden und zu Fehlinvestitionen führen. Außerdem ist es wichtig, bei der Markteinführung nicht zu überstürzen: Produkte müssen gründlich getestet und alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt sein, um Sicherheitsrisiken zu minimieren.
Es fällt auf, dass sich zunehmend Unternehmen der Automobilzulieferindustrie für den Healthcare-Bereich interessieren. Die Masterflex-Group ist sowohl im Automobil- als auch im Medizinsektor aktiv. Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen diesen beiden Branchen?
Martin Oye: Die größten Unterschiede liegen in der Regulierung, dem Produktlebenszyklus, der Innovationsgeschwindigkeit und den Anforderungen an das Risikomanagement. Während die Automobilindustrie stark auf Effizienz und technologische Entwicklung ausgerichtet ist, erfordert der Healthcare-Bereich ein wesentlich höheres Maß an Sicherheit und Präzision. Er ist regulierter, um die Gesundheit und Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Man kann auch sagen, dass sich die Rolle der Regularien und Qualitätsnormen unterscheiden: In beiden Branchen sind sie zentral – doch während in der Automobilindustrie die Produktleistung und Marktfähigkeit im Vordergrund stehen, zielt die Medizintechnik in erster Linie auf die Patientensicherheit ab.
Als eines der führenden Distributionsunternehmen der Kunststoffindustrie interessiert uns natürlich speziell die Perspektive auf Werkstoffe. Welche Unterschiede sehen Sie hier beim Vergleich verschiedener Industrien, Stichwort „Medical Grade Plastics“?
Martin Oye: Der Begriff “Medical Grade Plastics" kann sehr breit interpretiert werden, weil er keine verbindlichen Kriterien für die Materialien festlegt. In der Definition der VDI-Richtlinie 2017 bezeichnet er Kunststoffe, die gewisse Grundanforderungen für den Einsatz in der Medizin erfüllen. Das sind ausschließlich Service-Eigenschaften, die für die Regulatorik wichtig sind – einige Hersteller verknüpfen damit beispielsweise besonders lange Ankündigungszeiten in Bezug auf Rezepturänderungen. Nicht spezifiziert sind in diesem formalen Begriff die technischen Eigenschaften des Materials. Es wird also nichts zum Anwendungsbereich gesagt, der bei der Auswahl des passenden Kunststoffs aber eigentlich maßgeblich ist. Die Fragen, die man sich hierbei stellen sollte, sind: Wird das Produkt im Körper eingesetzt? Besteht Blut- oder Medikamentenkontakt? Oder handelt es sich um ein Implantat, das längere Zeit im Körper verweilen soll?
Vor dem Einsatz im Healthcare-Bereich muss der Kunststoff also sowohl in Bezug auf die Anwendung als auch die Kritikalität bewertet werden. Wir haben das anhand einer Matrix einmal exemplarisch dargestellt:

Welche Rolle spielt der Nachhaltigkeitsgedanke im Hinblick auf Kunststoffe in der Medizintechnik?
Martin Oye: Nachhaltigkeit gewinnt auch in der Medizintechnik zunehmend an Bedeutung, zumal einige medizinische Produkte wie Spritzen oder Katheter Einwegprodukte sind und eine kurze Lebensdauer haben. Damit wächst das Interesse an der Entwicklung und dem Einsatz von nachhaltigen Materialien, die beispielsweise biologisch abbaubar oder recycelbar sind. Allerdings machen die Anforderungen an Sicherheit und Funktionalität die Umsetzung von Nachhaltigkeit komplexer als in anderen Branchen: Die nachhaltigen Kunststoffe müssen gleichzeitig die strengen medizinischen Standards erfüllen wie z.B. Biokompatibilität und sie müssen frei sein von Stoffen, die den Organismus beeinflussen – Stichwort Patientensicherheit.
Unternehmen in der Medizintechnik arbeiten daher an innovativen Lösungen, die es ermöglichen, umweltfreundliche Materialien zu nutzen, ohne die Sicherheitsanforderungen zu gefährden. Zudem gibt es Bestrebungen, Verpackungen und Produktdesigns zu optimieren, um den Verpackungsmüll zu reduzieren und Einwegplastik zu minimieren.
Was ist ein abschließender Ratschlag, den Sie Unternehmen, die neu in den Medizinsektor einsteigen wollen mit auf den Weg geben können?
Martin Oye: Der Einstieg in die Medizintechnik ist attraktiv, weil der Markt weltweit stetig wächst – sowohl durch den besseren Zugang zu Behandlungen als auch durch den demografischen Wandel in westlichen Ländern. Medizinprodukte tragen zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten bei. Aber man sollte sich bewusst sein: Die Entwicklungszyklen sind lang und hängen oft von externen Faktoren ab. So können die knappen Ressourcen bei Behörden und Zertifizierern zu Verzögerungen führen, ebenso wie die Simulation von Alterungsprozessen und die umfassenden Validierungen. Projektlaufzeiten können da schonmal fünf oder sechs Jahre betragen. Dafür sind aber auch die Lebenszyklen der Endprodukte viel länger als zum Beispiel in der Konsumindustrie – die Produkte bleiben lange am Markt.
Wichtig ist, die tatsächlichen Bedarfe zu verstehen und echten Mehrwert zu schaffen - für Patienten ebenso wie für andere Stakeholder wie Ärzte, Klinikpersonal oder Einkäufer in Krankenhäusern.
Und: Partner mit Medizintechnik-Expertise sind nicht nur nice-to-have, sondern kann können entscheidend für den Erfolg sein. Sie bringen nicht nur das nötige Fachwissen und Marktkenntnisse mit, sondern auch Erfahrung im Umgang mit Regulatorien und Gesetzen, mit klinischen Studien und den speziellen Beschaffungswegen im Gesundheitswesen.
Zusammenfassend würde ich sagen: Nur wer frühzeitig die richtigen Brücken baut, kann nachhaltig Fuß fassen.
Vielen Dank für das Gespräch!